Wahrnehmung des Seins
von Johannes Nießen
Das Jetzt bewusst erleben ohne an kommende Geschehnisse zu denken. Diese Eigenschaft ist vielen von uns verloren gegangen. Diesen Umstand vermag jeder dauerhaft festzustellen, wenn er sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt.
Besonders im Universitätsalltag fällt auf, dass, noch während der Professor die letzten Zeilen auf der Projektorfolie mit wissenswerten Informationen füllt, der Großteil der bis dahin mehr oder weniger Zuhörenden schon die letzten Zentimeter der Reißverschlüsse ihrer Jacken zum Verschluss nach oben ziehen und mit einer bemerkenswerten Fokussierung auf den Ausgang diejenigen mit verächtlichen Blicken strafen, die aus unerfindlichen Gründen wie etwa vollständiges Mitschreiben oder auch durch Schlafmangel herbeigeführte Lethargie, im Wettrennen zum Flur einen Fehlstart provozieren.
Stelle man sich diese Szene bildlich vor, mag man sich kopfschüttelnd fragen: Warum dieser Übereifer?
Ist eines jeden Zeitplans so eng umrissen, dass es ein vollkommen inakzeptabler Umstand wäre, 5 Minuten später den Universitätsflur zu betreten, 5 Minuten später das Mensatablett auf das Fließband Richtung Spüle zu stellen oder 5 Minuten später das Fahrradschloss aufzuschließen?
Und trotz der allgegenwärtigen Hetzerei ist mit Beachtung festzustellen, wie fortwährend zu hören ist: „Ich habe keine Zeit“.
Keine Zeit zu haben ist eine Scheinwahrheit. Es schildert lediglich das Unvermögen des Menschen, sich die Zeit einzuteilen.
Es sei allen geraten, sich gezielt der Gemächlichkeit zuzuwenden, um wieder ein Bewusstsein für die Zeit zu erhalten und ihren Wert wieder richtig zu würdigen vermögen.
Sollte dem sehr geschätzten Leser nun im Rausche der Erkenntnis der allerseits beliebte Satz: „Zeit ist Geld“ in den Sinn kommen, muss dieser leider enttäuscht werden. Diese Formulierung ist mit Sicherheit maximal drei Euro für das Phrasenschwein wert.
Zeit ist einfach nicht mit weltlich wertorientierten Materien aufzuwiegen, sondern stellt eine elementare Komponente eines jeden Individuums dar.
Eine Sache ist dem ungeachtet sicher. Alles ist vergänglich. Nichts wird jemals wieder genau so sein wie in diesem Augenblick.
Dem mitdenkenden Leser sollte an dieser Stelle jedoch nicht die traurige Tatsache vorenthalten werden, dass die Wahrnehmung des Augenblicks an sich ein unlösbares Problem darstellt. Bis eine synaptische Kettenreaktion die Reize des Augenblicks im Gehirn verarbeitet und ausgewertet hat, ist dieser bereits vorbei.
Trotzdem sollte ausnahmslos jeder einmal versuchen, der Aufnahme dieses Punktes auf dem Zeitstrahl so nahe wie möglich zu kommen.
Denn wer das Jetzt zu erleben vermochte, entwickelt auch eine gesteigerte Lebensfreude.
Felix Middendorf schrieb am 12. November 2006 um 19:11:
Im Grunde genommen hast du Recht, aber du weißt ja: „jeder, den wir jetzt überholen, steht in der Mensa nicht vor uns“ und wenns ums Essen geht, dann handelt der Mensch nicht mehr rational, sondern will allein seine Triebe befriedigt wissen.